Hallo Leute,
sehr interessante Diskussion! Was mir dabei aufgefallen ist: Es gibt hier unterschiedliche Tendenzen, das Schicksal zu begreifen: 1. als unverrückbare Vorherbestimmung, der man sich ohnehin nur fügen kann, 2. als Vorherbestimmung, die unserem freien Willen und Handeln einen Rahmen gibt und Möglichkeiten offenlegt.
Wenn wir uns die Frage nach dem Schicksal stellen, müssen wir es erstmal für uns so definieren, dass es unserer Existenz einen SINN gibt. Der Rest ist GLAUBE.
Ich denke, wie wir Schicksal und freien Willen definieren, hängt auch sehr von den gesellschaftlichen Umständen ab. In festgefügten Bauerngesellschaften des Mittelalters zum Beispiel, in der das Individuum eine feste Rolle in der Gesellschaft hatte, aus der er nicht ausbrechen konnte, weil er sein eigenes Wohl unter das der Gemeinschaft unterordnen musste, um deren Überleben zu sichern, schien das Schicksal etwas unabänderliches zu sein, das keinen freien Willen zulässt. Heutzutage aber können wir unseren Lebensstil jederzeit neu wählen und wechseln, jeder kann seine eigene Welt erschaffen. Deshalb fällt es uns schwer, an ein Schicksal zu glauben, das unser Handeln vollkommen determiniert.
Schicksal und freier Wille sind aber nichts widersprüchliches, sondern werden, wie ich schon sagte, je nach gesellschaftlicher Situation verstanden. Ich stimme mit Nikodemus überein, der sagt:
Der Mensch hat die freie Entscheidung des Herzens,welchen Weg er einschlägt. Für was er sich entscheidet und wie er mit seinem Schicksal umgeht.
Das impliziert, dass es ein Schicksal gibt, der Mensch aber dennoch einen freien Willen hat und selbst entscheidet, wie er mit seinem Schicksal umgeht.
Und da wir schon bei religiösem Verständnis sind (Nikodemus schreibt vom Buddhismus), möchte ich noch anregen, dass in - soweit ich weiß - allen Religionen sowohl der Gedanke des Schicksals als auch des freien Willens angelegt sind. Im Hinduismus bestimmt zwar unsere Geburt über die Kaste und damit über das Leben, das wir führen, aber es liegt an uns, uns durch gute Lebensführung für das nächste Leben "hochzuarbeiten.
Das christliche Gebot der Nächstenliebe hätte wenig Sinn, wenn unser Handeln vorherbestimmt wäre und wir gar nicht eigenständig entscheiden könnten, gutes zu tun. Wenn wir ein gottgefälliges Leben führen, kommen wir ins Paradies. Und falls wir kein gottgefälliges Leben führen: wofür sollte uns die Hölle bestrafen, wenn wir über unser Handeln nicht entscheiden könnten? Genauso im Judentum.
Und im Islam gilt alles, was man erreicht, als vorherbestimmtes Gottesgeschenk, das einem zusteht, WIE man es erreicht, hängt jedoch vom eigenen Handeln ab. Wenn ich beispielsweise zu Reichtum komme, dann deshalb, weil es meine Vorherbestimmung ist. Wie ich das erreiche, ist eine Folge meiner eigenen Enmtscheidungen. Noch wichtiger aber ist, was cih damit mache - ob ich es behalte, teile oder verliere, auch das entscheide ich selbst. Auch meine Talente und Gaben, von denen Nikodemus spricht, sind nach islamischem Glauben gottgegeben, und ich muss das beste daraus machen. Ein gottgefälliges Leben zu fürhen heißt, seine Talente voll auszunutzen, sodass sie einem selbst und seiner Umwelt zugute kommen.
Religionen an sich haben mehrere Funktionen (ich rede von dem ursprünglichen Sinn von Religionen, nicht davon, wie sie gelebt werden!): 1. Regeln und Normen für eine funktionsfähige Gesellschaftsordnung aufzustellen, um ein friedliches Miteinander innerhalb einer Gruppe zu ermöglichen, 2. Die nicht greifbare Welt (durch Schöpfungsgeschichten, Götterglauben etc.) zu erklären, 3. Dem Dasein des Individuums einen Sinn zu geben.
Darüber hinaus ist den Religionen gemeinsam, das sie alle dazu auffordern, gutes zu tun, wofür wir dann - spätestens nach dem diesseitigen Leben, sei es im Jenseits oder Nirvana oder sonstwo - belohnt werden. In diesem historischen Kontext ist die Frage nach Schicksal und freiem Willen meiner Meinung nach zu sehen.
Heute aber gibt es Gesellschaften, vor allem die von der Aufklärung geprägte europäische Gesellschaft, in denen Religiosität und Glaube eine immer geringere Rolle spielt. Der deutschsprachige Raum ist dabei ein Extremfall. Die Aufklärung lehrte uns einen freien Willen, und Regierungen, Gesetze und Wissenschaften übernehmen die oben genannten Funktionen der Religionen. Dennoch bleiben da einige Fragen offen... Wir reden von Toleranz und Meinungsfreiheit und übersehen dabei, in welcher Identitätskrise wir uns befinden: Der einzelne muss sich auf seine Werte besinnen, sich selbst ein Weltbild zusammenschustern, denn Sinn des Lebens neu definieren und das Rad neu erfinden: Zum Beispiel bei der Frage nach Schicksal, Bestimmung und freiem Willen. Daher halte ich es umso wichtiger, uns mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Damit ist meine Sonntagsrede beendet
Wünsche Euch noch einen schönen Tag!